Warum Angst ein schlechter Ratgeber ist

Auf dem Weg zu meinem zweiten Kerninteresse brauche ich einen Umweg. Wir kehren dafür zurück zu unserem Helden Jonas aus der Wormworldsaga von Daniel Lieske. 

Ich empfehle den Start bei Kapitel 1 dieses kostenlosen Webcomics (verfügbar in Englisch, Spanisch und Deutsch).


Unser Augenmerk gilt der Artwork-Szene aus meinem Einleitungsartikel. Hier in der Comicversion, die in Kapitel 2 zu finden ist. Bei einem genauen Blick fällt der Bindfaden auf, der am Stützbalken des Dachstuhls als Absicherung festgebunden ist. 

Bei aller Neugier auf die unbekannte Welt jenseits des Bilderrahmens sind vernünftige Sicherheitsmaßnahmen nicht von der Hand zu weisen. Wer weiß schon, welche Gefahren und Risiken unseren Helden dort erwarten?

Sich gegen ein Gefühl von Unsicherheit zu wappnen, verhindert die Eskalation zu extremeren Gefühlen. Ohne Gegenmaßnahmen führt Unsicherheit zu Furcht und weiter zu Angst.

Angst kommt in der Bedürfnishierarchie gleich nach dem Hunger

In der Bedürfnishierarchie nach Maslow wird Sicherheit als ein sogenanntes Defizitbedürfnis an zweiter Stelle direkt nach physiologischen Grundbedürfnissen wie Essen, Trinken, Atmen, Schlafen genannt. 

Defizitbedürfnis bedeutet, dass ein empfundener Mangel die Entwicklung “höherer” Bedürfnisse und Motivationen erschwert. 

Mehrere psychologische Modellen haben sich kritisch mit Maslows Modell auseinandergesetzt und  differenzierter über die Möglichkeiten der Verfolgung der höheren Stufen individueller Bedürfnisse oder Selbstverwirklichung nachgedacht. Als Gegenbeispiele für die strenge Stufung der Bedürfnisse werden die am Hungertuch nagende Künstler*in genannt oder auch die risikobereite Unternehmer*in.

Aber kaum ein Zweifel scheint daran zu bestehen, dass es hungrig und ängstlich wesentlich schwieriger ist, das eigene Potential voll zu entfalten.

Eskalation von Angst zu Panik oder Erstarren, beides nicht produktiv

Es gibt ein weit verbreitetes Sprichwort: “Angst ist ein schlechter Ratgeber”. – Gerne hätte ich die Quelle ausfindig gemacht, aber für die Argumentation reicht mir die Überlegung, was typische Angstreaktionen sind: 1. Flucht zurück in vermeintliche Sicherheit – zumindest aber in bekannte Situationen, 2. Planlose Flucht nach vorn oder 3. Erstarren. 

Nach verlässlich positiven oder besonders produktiven Ergebnissen klingt keine der Verhaltensweisen.

Die Angst-Falle überwinden

Vor einigen Wochen war ich bei einem Coaching-Workshop-Tag dabei, der uns dabei helfen sollte, die Stärken unserer Mitarbeitenden zu erkennen und zu fördern. Selbsterkenntnis war dabei das Ziel der ersten Übungen und so endete ich mit “angstarm” als einer Eigenschaft, der ich einige meiner Erfolge zuschreibe.

Das hat mich dazu inspiriert, diesen Umweg zu gehen und das Thema Angst nochmal intensiver zu reflektieren.

Für die darauf folgende Übung haben wir das Modell des Kernquadrats von Daniel Ofman kennengelernt. Ich verweise dazu gerne einmal auf den Wikipedia-Eintrag und auf den ersten Suchtreffer mit einer praxisnahen Erklärung. Diese ist nicht vom Coaching-Anbieter bei dem wir waren – den verlinke ich hier gerne auch noch: Crispy Coaching in Berlin.

Meine eigene Kurzfassung des Kernquadrats geht so: Wenn wir eine eigene Stärke als Kernqualität bezeichnen, dann führt die extreme Übertreibung dieser Stärke in eine Falle, in die wir nicht tappen wollen. Um dies zu vermeiden, sollte man sich der dazugehörigen Herausforderung stellen, die eine gespiegelte Stärke zur Falle darstellt und sie dadurch “entschärft”.

Ein inspirierender Twist ist nun, dass sich spiegelverkehrt die extreme Steigerung der Herausforderung als sogenannte Allergie ausprägt. Diese Eigenschaft wird häufig als besonders unangenehm wahrgenommen, wenn man sie an anderen entdeckt.

Die Coaching-Empfehlung ist nun, bei einer “allergischen” Reaktion auf ein Verhalten die zugrunde liegende Stärke herauszufinden und sich dadurch auf etwas Positives zu konzentrieren.

Leider – und hier beginnt jetzt meine Interpretation – ist die Welt kompliziert und vielschichtig, wie ich prima an der Beispiel-Grafik aus dem Wikipedia-Artikel erklären kann.

Ein Rückschluss etwa ist keineswegs gültig: Nur weil ich tatsächlich unleidlich auf Engstirnigkeit reagiere, die als Allergie auftaucht, sagt das noch lange nichts über meine Kreativität aus. Bei der Kernqualität könnte genausogut “spontan” stehen und das Quadrat funktioniert trotzdem. Auch kann die Allergie auch die Falle einer anderen Stärke sein als der eigenen Herausforderung, das wird dann Doppelquadrat genannt und sieht schnell wunderbar verwirrend aus.

Jedenfalls hatte ich enorme Schwierigkeiten, Begriffe für “angstarm” zu entwickeln und habe mir für die Übung lieber etwas leichteres ausgedacht.

Für diesen Artikel habe ich deshalb die Perplexity-KI gefragt, mir ein Kernquadrat mit “Angst” als Falle vorzuschlagen und diese Antwort bekommen:

“Ein gutes Beispiel für die Anwendung des Kernquadrats mit „Angst“ als Falle könnte folgendermaßen aussehen:

  1. Kernqualität: Achtsamkeit. Eine Person, die achtsam ist, hat die Fähigkeit, potenzielle Gefahren frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren. Diese Qualität kann in vielen Situationen von Vorteil sein, da sie dazu beiträgt, Risiken zu minimieren.
  2. Falle: Angst. Wenn die Achtsamkeit übertrieben wird, kann sie in Angst umschlagen. Die Person sieht dann möglicherweise überall Gefahren, was zu einem übermäßigen Sicherheitsbedürfnis und möglicherweise zu Vermeidungsverhalten führt.
  3. Herausforderung: Mut. Die Herausforderung für jemanden, der zur Angst neigt, besteht darin, Mut zu entwickeln. Mut bedeutet, trotz der wahrgenommenen Gefahren und Unsicherheiten zu handeln und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu haben, mit unvorhergesehenen Situationen umzugehen.
  4. Allergie: Leichtsinn. Eine Person, die stark auf Achtsamkeit und Vorsicht setzt, könnte allergisch auf Leichtsinn reagieren. Leichtsinn wird als das Gegenteil der eigenen Kernqualität wahrgenommen und kann bei der Person negative Emotionen hervorrufen, da es für sie unverständlich ist, wie jemand Risiken ignorieren kann”

Das klingt erstaunlich plausibel, wobei ich von Achtsamkeit nicht unmittelbar zur Angst gekommen wäre, von Wachsamkeit vielleicht.

Achtsamkeit verstehe ich eher als eine Form von Aufmerksamkeit, die gerade nicht gleich Alarm und Panik zur Folge hat, sondern einen kontrollierten und dialogorientierten Umgang – in Kommunikationssituationen noch dazu auf Augenhöhe.

Ich habe jedoch nicht versucht, mit der KI über die Subtilität zwischen Wachsamkeit, Vorsicht und Achtsamkeit zu diskutieren.

Vertrauen ist gut..

Stattdessen möchte ich zum Abschluss auf die vorgeschlagene Herausforderung eingehen, also die vorgeschlagene Lösung zum Überwinden von Angst: Mut.

Ich habe nichts gegen Mut, mein naheliegender Reflex würde wohl erstmal in Richtung eines gesunden Risikomanagements gehen. Ängste nüchterner betrachten und im Vorfeld über Strategien für den Eintrittsfall nachzudenken, kann die meisten Ängste doch zu einer besser kontrollierbaren Unsicherheit zurückdrängen.
Aus einer unkontrollierten Angstsituation voll auf Mut zu setzen, kann ziemlich schnell in die als Allergie erwähnte Leichtsinnigkeit führen.

Aber ich habe noch aus einem anderen Grund “angstarm” formuliert und nicht “mutig”.
Meine bevorzugte Strategie gegen Angst ist Vertrauen. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sicherlich, Vertrauen aber vor allem auch darauf, nicht alleine durch beängstigende Situationen gehen zu müssen.

Leider fällt mir mal wieder die Quelle nicht ein, aber es war eine wundervolle Antwort auf den dummen Spruch von Elternseite: “Wenn deine Freunde von der Brücke springen, springst du dann auch?” – Antwort: “Natürlich. Offensichtlich haben sie eine Gefahr erkannt und einen Plan, wie wir uns in Sicherheit bringen können.”

Kerninteresse 2: Vertrauen

Es war ein ziemlicher Umweg hierher. Den Bogen zurück zur Komplexität als erstes Kerninteresse schließt der folgende Auszug aus dem Wikipedia-Artikel zu Vertrauen:

Für Niklas Luhmann ist Grundlage des Vertrauens (d. h. letztlich des Zutrauens zu den eigenen Erwartungen) die „Gegenwart als dauerndes Kontinuum …, als Gesamtheit der Bestände, an denen Ereignisse sich ereignen können“. Dieses Vertrauen hat im Zusammenhang der sozialen Interaktionen die Funktion, die Komplexität der Möglichkeiten auf ein Maß zu reduzieren, das den einzelnen in seiner Umwelt handlungsfähig bleiben lässt.[10]

Zu guter Letzt wieder eine Empfehlung mit Kontext Klimakrise

Weil Angst auch bei der Klimakrise in verschiedener Art mitschwingt, möchte ich gerne noch den TED-Talk von Katherine Hayhoe empfehlen: “The most important thing you can do to fight climate change: talk about it”. Er ist aus 2018, hat aber nichts an Gültigkeit verloren. Der Bezug zum Thema wird an Stelle 10:34 deutlich: “Fear is not what is going to motivate us for the long-term, sustained change we need to fix this thing. […] We need a vision of a better future”

Manches ist leichter gesagt als getan.
Ich wollt meine Zukunft nicht erleben
Und noch gestern hatte ich Angst davor
Doch heut bin ich verliebt ins Leben

weil ich die Furcht davor verlor

(“Keine Angst” von Silbermond, 2009)
https://www.youtube.com/watch?v=IvsM5qid_QA&t=108s